Wahrheit. Ein Thema, das mich früher nicht beschäftigt hat. Nein, das bedeutet nicht, dass ich den ganzen Tag bewusst lügend durch die Welt gezogen bin. Wahrheit hat so viele Facetten und Tiefen. Sie wurde für mich seit letztem Jahr immer wichtiger.
Ich hielt mich immer für einen wahrheitsliebenden Menschen. Lügen mochte ich nicht. Lügen zerstört Vertrauen.
Und doch belog ich mich jeden Tag selber.
An jedem Tag, an dem ich nicht meine Wahrheit aussprach, habe ich mich und meine Mitmenschen belogen und mit jeder nicht ausgesprochenen Wahrheit den Preis des Vertrauensverlustes gezahlt.
Jede nicht ausgesprochene Wahrheit sorgte dafür, dass ich mehr und mehr Vertrauen in mich selber verlor. In meine Weiblichkeit, mein Können, meine Werte.
Es war ein langsamer Prozess, der völlig unbemerkt im Hintergrund ablief.
Jede nicht ausgesprochene Wahrheit wurde automatisch abgelegt. Solange, bis der Raum zu eng und der Schmerz zu groß wurde. Es hat lange gedauert. 45 Jahre. Seitdem ich mich entschloss, mir diesen Schmerz näher anzusehen, konnte ich schon sehr viel befreien. Und seitdem bin ich auch immer ehrlicher mit mir und meinen Mitmenschen. Das bedeutet nicht, dass ich mich gar nicht mehr belüge. Aber es kommt bedeutend seltener vor und ich merke es schneller, wenn ich es tue. Außerdem habe ich ganz tolle Menschen um mich herum, die mich liebevoll anstupsen und mir Bescheid sagen, wenn ich es mal nicht merke.
Wie äußert sich das im täglichen Leben?
Immer öfter treffe ich Entscheidungen basierend darauf, was sich für mich gut anfühlt und nicht auf dem, was andere von mir erwarten – oder ich denke, dass sie es von mir erwarten.
Ich agiere immer weniger aus Vermutungen heraus. Wenn etwas zwischen einem Mitmenschen und mir für mich unklar ist, dann spreche ich ihn darauf an.
Wenn mich das Verhalten meines Gegenübers verletzt oder unbehaglich fühlen lässt, dann spreche ich ihn auch darauf an und schlucke es nicht mehr runter, bzw. ziehe mich zurück.
Ich spiele immer seltener die Rolle der Unnahbaren, in die ich automatisch schlüpfe, wenn ich meine Gefühle nicht zeigen will, sondern stehe dazu und zeige meine Verletzlichkeit, auch meinen Töchtern gegenüber.
Klappt das immer? Nö. Ein Automatismus, der über 45 Jahre hinweg regelmäßig bedient, gewartet und gefüttert wurde, lässt sich nicht sooo schnell auflösen. Und gekonnt ist gekonnt. Das Mich-Selbst-Belügen habe ich in der Zeit zu einer Kunstform verfeinert. Ich komme immer wieder neuen Täuschungsmanövern auf die Schliche, die ich anwende, weil das Mich-Selber-Belügen doch erst mal viel weniger schmerzhaft zu sein scheint.
Wenn ich für mich selber einstehe, meine Wahrheit lebe, muss ich meine Wahrheit kennen. Dazu gehört es, rauszufinden, was mich ausmacht. Wer ich bin. Was ich will. Was meine Werte sind. Tue ich etwas, weil es mir Freude macht, oder weil ich es schon immer gemacht habe, weil es von mir erwartet wurde, weil ich ein Rollenklischee bedienen wollte?
Wie wichtig bin ich mir? Bin ich mir wichtig genug, um meine Wahrheit zu leben? Zu sagen, was ich denke? Mir selber einzugestehen, wenn ich auf dem Holzweg bin?
Und wie wichtig ist mir die Akzeptanz von anderen, wenn ich sage, was ich denke und nicht das, was gehört werden will?
Auch dann, wenn ich sage, was gehört werden will und nicht das, was ich denke, belüge ich mich und mein Gegenüber. Dazu liebe und respektiere ich mittlerweile mich und meine Mitmenschen zu sehr.
Ist das immer angenehm? Mit Sicherheit nicht. Weder für mich noch für mein Gegenüber.
Und was hat die Weiblichkeit mit all dem zu tun?
Seit ich mir selber gegenüber immer öfter wahrhaftig bin, werde ich auch immer weiblicher. Ich habe festgestellt, dass wahrhaftige und offene Kommunikation mich mehr und mehr in meine Kraft kommen lässt, mich stärker macht. Ich laufe gerader, werde weicher. Werde offener, verletzlicher, klarer. Nahbarer. Mit jeder Lüge, die ich abbaue, mit jeder Wahrheit, die ich ausspreche, lasse ich die Menschen immer näher an mich heran und zeige trotzdem, wer ich bin. Nähe spüren und Grenzen ziehen geschieht ganz natürlich, wie in einem anmutigen Tanz. Okay, nicht immer. Dieser Tanz ist noch neu, die Schritte müssen noch gelernt werden und so tritt manchmal noch die Grenze der Nähe auf die Füße oder trägt zu enge Schuhe. Dann wechsle ich entweder die Schuhe oder übe mich noch ein bisschen darin, für mich gerade zu stehen.
Gelebte Weiblichkeit für mich ist die Kunst dieses Tanzes. Inklusive Schuhwechsel und Übungsstunden.